…oder: Wie erreicht man diesen Grad an Perfektion?
Die Aufnahmeprüfungen der Europäischen Institutionen sind anspruchsvoll. Möchte man als Dolmetscher beim Europäischen Parlament, der Europäischen Kommission oder dem Gerichtshof der Europäischen Union arbeiten, muss man seine Fähigkeiten simultan und konsekutiv unter Beweis stellen.
Ich habe inzwischen eine Handvoll Kolleginnen bei den Vorbereitungen auf die Dolmetscherprüfung der Europäischen Institutionen begleitet. In diesem Blogeintrag erkläre ich, was die besonderen Anforderungen ans konsekutive Dolmetschen sind – und was das für die eigene Notizentechnik bedeutet.
Die Konsekutiv-Prüfung ist ungefähr 6 Minuten lang, bei normaler Redegeschwindigkeit. Allein der Länge wegen kommt man um das Notieren also nicht herum. Was viele überrascht, wenn sie sich zum ersten Mal mit den Dolmetscherprüfungen der EU beschäftigen: die Themen!
Schwierigkeit 1: die Themen
Periodenarmut, Wasserknappheit, Speiseeis, die DLRG, die Schenkungssteuer, Drogen, Golf und das Kommunikationsverhalten von Männern und Frauen – es kann schlicht um ALLES gehen.
Für alle, die Symbole lieben, bedeutet das: hier müsst ihr umdenken. Es ist unmöglich, für diese Themenvielfalt Symbole griffbereit zu haben. Solch spezifische Themen zu dolmetschen bedeutet immer, vieles auszuschreiben. Trotzdem ist es gleichzeitig wichtig, für häufig verwendete Konzepte und Verben auf Symbole zurückgreifen zu können. Muss man Verben wie „verbessern, steigen, sinken, vereinbaren, abschließen“ usw. zusätzlich noch ausschreiben, kommt man wahrscheinlich schwer hinterher.
Schwierigkeit 2: der Anspruch an die Vollständigkeit
Ziel des Akkreditierungstests ist es natürlich festzustellen, ob die Dolmetscher in der Lage sind, auch schwierige Themen unter Druck vollständig wiederzugeben. Bei der Konsekutiv-Prüfung der EU-Institutionen kommt es deshalb, mehr als im Dolmetsch-Alltag in der freien Wirtschaft auch darauf an, Kleinigkeiten und Bemerkungen, die der Redner am Rande fallenlässt, wiederzugeben.
Wie erreicht man diesen Grad an Perfektion?
Beim Notizentechnik-Training mit meinen Dolmetscher-Kolleginnen war so gut wie immer die Struktur ausschlaggebend. Unter Druck notiert man manchmal zu unsortiert, vergisst, Segmente voneinander zu trennen. Die Randbemerkung stand teilweise mitten in einer anderen Aussage – die später beim Dolmetschen dann so keinen Sinn mehr ergab.
Ein weiteres Problem: Man macht sich zu viele Gedanken über die Struktur und die Symbole (oder Abkürzungen), einfach, weil einem das strukturierte Notieren noch nicht in Fleisch und Blut übergegangen ist. Man hört auf, gut zuzuhören und vernünftig zu analysieren.
Mein persönliches Fazit: Derart genau und vollständig zu notieren und zu dolmetschen gelingt, wenn man die Notizentechnik als Werkzeug wirklich verinnerlicht hat. Das heißt:
– Die Struktur auch unter Druck intuitiv beizubehalten
– Grundlegende Symbole und Zeichen für wichtige Konzepte parat zu haben
– Zu wissen, wann man etwas ausschreiben muss (= beim Zuhören nicht mehr überlegen zu müssen, wie man etwas notiert)
Neben einer sehr guten Analyse und einer 1a-Dolmetschtechnik gehört natürlich auch etwas Glück dazu – die perfekte Dolmetschleistung ruft man auch nicht alle Tage ab 🙂 !
Für alle, die sich so eine Rede für die Konsekutiv-Prüfung mal anhören wollen, geht es hier zum Speech-Repository.
Näheres zum Akkreditierungstest der EU-Institutionen gibt es hier.