Über die Bedeutung verschiedener Lerntypen für Sprachdienstleister:innen
Dolmetscher:innen und Übersetzer:innen befassen sich ihr gesamtes Berufsleben lang mit neuem Wissenserwerb, sei es bei der Vorbereitung von neuen Aufträgen, der Pflege ihrer bereits vorhandenen Sprachkenntnisse oder gar beim Erwerb weiterer Arbeitssprachen.
Dabei ist es von Vorteil zu wissen, wie man am besten und einfachsten neues Wissen erwirbt. So kann der Lernprozess wesentlich optimiert und angenehmer sowie effizienter gestaltet werden.
Lerne ich am besten in völliger Ruhe, zurückgezogen mit Stift und Papier? Präge ich mir Dinge gut ein, wenn ich sie von jemandem erzählt bekomme? Oder muss ich unter Leuten sein, mitten in einer Situation, die mich fordert und wo ich neue Dinge erfahren kann – quasi „learning by doing“?
Ein Gastbeitrag von Julia Weiland, Konferenzdolmetscherin und Übersetzerin für Deutsch, Englisch und Spanisch mit Berufswohnsitz in Leipzig. Bei Fragen zum Thema könnt ihr mir schreiben oder sie direkt ansprechen: www.juliaweiland.de mail@juliaweiland.de
Mit diesem und anderen Themen habe ich mich in meiner Masterarbeit „Leitfaden zum Selbststudium des Konsekutivdolmetschens und der Notizentechnik“ (Institut für Angewandte Linguistik und Translatologie der Universität Leipzig, 2020) beschäftigt, in der ich alle wesentlichen Aspekte betrachtete, die für den Konsekutiv-Dolmetschmodus und die dafür notwendigen Notizen wichtig sind – so eben auch die vier Lerntypen nach Frederic Vester, welcher Menschen in vier Kategorien und deren Mischformen einteilt: den auditiven, visuellen, haptischen und abstrakten Lerntyp.
Die vier Lerntypen nach Vester
Der auditive Lerntyp kann sich Neues besonders gut über das Gehör einprägen und über eine lange Zeit hinweg aufmerksam zuhören. Wissen wird in der Kommunikation, beim Hören und Sprechen erfasst.
Der visuelle Lerntyp kann neue Inhalte insbesondere über die optische Wahrnehmung oder Vorstellung aufnehmen. Er lernt optisch, also visuell, beispielsweise durch Beobachtung und Experiment.
Der haptische Lerntyp setzt neu Gelerntes gerne direkt in die Tat um – ganz nach dem Motto „learning by doing“. Er braucht die praktische Erfahrung von Prozessen und konkreten Situationen für das Verständnis neuer Informationen.
Der abstrakte Lerntyp lernt am besten durch das simple, direkte Verstehen von Inhalten und Sachverhalten. „Eselsbrücken“, Grafiken, Schaubilder oder die Kommunikation mit Anderen können ablenken und für den Lernprozess eher kontraproduktiv sein.
Was bedeutet das nun konkret für Dolmetscher:innen?
- Der auditive Lerntyp kann sich gut im Kontakt mit anderen vorbereiten, Sprache erlernen und Dolmetschen üben, etwa in Lerngruppen mit Gesprächen und Diskussionen. Außerdem ist es hilfreich, die Sprache an sich und auch die für das Dolmetschen notwendigen Informationen ausreichend oft zu hören. Auch das laute Vorlesen oder Hören von Texten (z. B. in Vorträgen oder Vorlesungen) kann hilfreich sein, sowie das Aufnehmen von gesprochenen Texten, um diese später nochmals anzuhören.
- Der visuelle Lerntyp kann sich neue Inhalte gut bildlich vor Augen führen, etwa durch Filme oder niedergeschriebene Inhalte, Grafiken, Skizzen oder insbesondere beim Konsekutivdolmetschen durch eine symbolreiche Notizentechnik. Für den Dolmetschprozess selbst empfiehlt es sich, den Inhalt der Rede zu visualisieren und sich auch abstrakte Dinge vorzustellen, z. B. wie sie ausgeschrieben aussehen oder durch welche Bilder sie verkörpert werden.
- Für den haptischen Lerntyp ist es empfehlenswert, die gelernte Dolmetschtheorie direkt in die Praxis umzusetzen und auf eigene Erfahrungswerte zu beziehen. Zuträglich für den Lernprozess ist es hier, zu sehen, wie neues Vokabular nach häufiger Benutzung in den aktiven Wortschatz übergeht oder wie das Notieren immer leichter fällt, je öfter es geübt wird.
- Ratsam für den abstrakten Lerntyp kann es sein, beim Spracherwerb mit klaren Gegenüberstellungen zu arbeiten, etwa mit Verbtabellen. Um das Dolmetschen zu üben kann dieser Lerntyp anstelle von vielen Vorübungen wahrscheinlich am besten die konkreten, realen Dolmetschsituationen oder deren Nachstellungen für sich nutzen.
Welcher Lerntyp bin ich?
Um herauszufinden, welcher Lerntyp man ist, kann man sich selbst in verschiedenen Lernsituationen beobachten und versuchen zu erkennen, wie man neue Informationen am besten aufnimmt. Fällt es einem leicht, Texte zu lesen und sich deren Inhalt zu merken? Oder ist es einfacher, im Gespräch mit anderen neue Informationen zu verinnerlichen?
Hilfreich kann es auch sein, sich zurückzuerinnern, wie man früher, etwa zu Schul- oder Studienzeiten, am besten lernen konnte, bevor gewisse Lernmethoden eingeführt wurden, die eventuell dem eigenen Typ gar nicht entsprechen.
Im Internet finden sich zudem viele verschiedene Selbsttests, die darüber Aufschluss geben, welcher Lerntyp man ist bzw. welche Mischformen der verschiedenen Lernmethoden für einen persönlich am effektivsten sein können.
Beispiel für einen Lerntypen-Test
Im Folgenden ist ein Auszug aus einem Online-Test aufgeführt. Der gesamte Test ist unter dem Link am Ende dieses Abschnitts zu finden.
Sie sind sich nicht sicher, wie ein Wort geschrieben wird. Wie gehen Sie vor?
- Ich schlage im Wörterbuch nach oder google das Wort.
- Ich spreche es mehrfach laut vor mich hin und finde es so heraus.
- Ich schreibe es in allen Varianten auf.
- Ich denke an Plakate oder Textpassagen, in denen das Wort schon einmal vorkam.
Wenn unter Kollegen oder Freunden ein neues Thema besprochen wird, fällt mir auf:
- Ich stelle mehr Fragen als die anderen und denke sofort an die Umsetzung.
- Ich lese zu Hause alles durch, was ich dazu finden kann.
- Mir kommen sofort Bilder in den Sinn, die ich dazu gesehen habe.
- Ich höre erst mal gut zu.
Wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich bei einer Frage zu einem Thema…
- die Lösung in meinen Aufzeichnungen suchen.
- mir die Antwort von einem guten Dozenten erklären lassen.
- meine Lerngruppe anrufen und die Frage diskutieren.
- mir das Ganze bildlich vorstellen und so die Antwort finden.
Der komplette Test zur Durchführung und Auswertung ist hier zu finden.
Literatur
- Gillies, Andrew (2013): Conference Interpreting. A Student’s Practice Book. New York: Routledge
- Quilling, Kathrin (2015): „Lernstile und Lerntypen. Fördert eine Typisierung den individuellen Lernerfolg?“ https://www.wb-web.de/wissen/lehren-lernen/lernstile-und-lerntypen.html [11.11.2022]
- Vester, Frederic (2007): Denken, Lernen, Vergessen. Was geht in unserem Kopf vor, wie lernt das Gehirn, und wann lässt es uns im Stich? München: Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & CO. KG
- Weiland, Julia (2020): Leitfaden zum Selbststudium des Konsekutivdolmetschens und der Notizentechnik. Leipzig: Universität Leipzig, Institut für Angewandte Linguistik und Translatologie